Stellen wir uns folgende Situation vor: Ein brutaler Dikator im Mittleren Osten, der bereits Zehntausende oder gar Hunderttausende "seiner" Bürger ermordet hat, sieht sich plötzlich einem teilweise bewaffneten Volksaufstand gegenüber. Der Diktator versucht sich durch den Einsatz des Repressionsapparates des Staates an der Macht zu halten. Es kommt zu einem lang anhaltenden bewaffneten Bürgerkrieg mit zahllosen Opfern vor allem auf Seiten von unbewaffneten Demonstranten. Wie würden viele deutsche Libertäre und Leser dieser Zeitschrift reagieren? Ohne großes Nachdenken würden sie sich auf die Seite der Volksbewegung stellen. Auch diffuse politische Vorstellungen bei den Aufständischen oder die Ermordung von Menschen, die durch ihre ethnische Zugehörigkeit oder durch untergeordnete Tätigkeiten im Staatsapparat in den Fokus der Aufständischen gelangt sind, ändern nichts an dieser grundsätzlichen Einstellung.
Ändern wir nun das Beispiel. Statt einer gar nicht oder nur unzureichend bewaffneten Bevölkerung ist es nun die gut ausgerüstete Armee einer freiheitlichen Supermacht, die den Sturz des Tyrannen bewirken will. Zwar gibt es Opfer unter der Zivilbevölkerung, diese sind aber erheblich geringer als in der Situation des Volksaufstandes, und ein schneller militärischer Sieg der freiheitlichen Supermacht erscheint wahrscheinlich. Wie reagieren die deutschen Libertären? Ohne großes Nachdenken schelten sie die Supermacht als arrogant und imperialistisch, die es außerdem nur auf die Rohstoffe des überfallenen Landes abgesehen habe - und reihen sich ein in eine von Sozialisten dominierte Friedensbewegung, die ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen fordert.
Die Bewertung dieser höchst unterschiedlichen Reaktionsmuster der Libertären ist einfach. Im Beispiel 1 verhalten sie sich entsprechend ihrer Weltanschauung, die "Freiheit zuerst" fordert. Im Beispiel 2 könnte man annehmen, dass sie politische Ideale verraten. Zweifellos gehen die Freiheitsfreunde im Beispiel 1 richtigerweise davon aus, dass die Herrschaft des Diktators illegitim ist. Auch die unschuldigen Opfer halten sie nicht davon ab, sich auf die Seite der Aufständischen zu schlagen. Im Beispiel 2 ändert sich lediglich der Faktor, der die illegitime Gewalt des Diktators brechen will. Dies widerspricht dem Grundsatz des Nichtinterventionsmus in außenpolitischen Angelegenheiten, dem viele Libertäre anhängen und von dem sie annehmen, dass er ein unverzichtbares Element ihres umfassenden Bekenntnisses zur Freiheit sei.
Eine besondere Bedeutung besitzt der Grundsatz des Nichtinterventionismus in einem konsequenten Anarcho-Kapitalismus. Da dieser jede Funktion des Staates, auch die Funktion des Schutzes der individuellen Rechte, ablehnt, wird selbstverständlich und gerade die Kriegsführung eines Staates abgelehnt. Eine ausgeprägt nichtinterventionistische Haltung findet sich auch in den außenpolitischen Stellungnahmen der Libertarian Party der USA. In einer Presseerklärung vor wenigen Wochen empfiehlt etwa Parteichef Geoffrey Neale eine Außenpolitik nach dem Muster der Schweiz unter dem Motto "Protect America First". Dies soll eine Politik der Neutralität und Nichtintervention sein, die insbesondere keine "präventiven" Militärschläge führt. Außerdem sollten alle amerikanischen Truppen heimgeholt und jegliche Auslandshilfe beendet werden.
Murray Rothbard setzt sich in seinem 1980 erschienen Buch "Die Ethik der Freiheit" auch mit der eingangs erwähnten Problematik "Revolution" versus "Krieg" auseinander und kommt, erwartungsgemäß, zu der Auffassung, dass Revolutionen rechtmäßig sein können, "während staatliche Kriege immer zu verurteilen sind." Rothbard benutzt einige pragmatische Argumente zur Untermauerung seiner Position, die entweder zweifelhaft oder falsch sind. So behauptet er, dass es bei modernen Waffen "natürlich überhaupt keine Zielfestlegung" geben könne, was aus seiner Sicht gegen den Krieg spricht. Fakt aber ist, dass gerade High-Tech-Waffen erhebliche Zielgenauigkeit zeigen, jedenfalls im Vergleich zu den im Zweiten Weltkrieg eingesetzten Bomben. Sein zentrales Anti-Kriegs-Argument ist allerdings die Vorstellung, dass Staaten ihr Handeln "auf den von ihnen monopolisierten Bereich beschränken" sollen und nicht auf andere Staatsmonopolisten übergreifen dürfen. Ausdrücklich bezeichnet Rothbard die "friedliche Koexistenz" der Staaten als Ideal. Dies ist ein seltsamer Etatismus für einen Wissenschaftler, den Justin Raimondo im Titel seiner Biographie als "Feind des Staates" bezeichnet.
Die ablehnende Haltung gegenüber staatlichen Interventionen ist tatsächlich in allen Fällen richtig, in denen keine individuellen Rechte bedroht sind. Diese Haltung ist falsch, ja sogar oft mit tödlichen Konsequenzen verbunden, wenn diese Rechte bedroht sind. Dies gilt für das Verhältnis Bürger-Staat, aber auch für das Verhältnis der Staaten untereinander. So sollte es selbstverständlich sein, dass der staatliche Justizapparat eines Landes einen Serienmörder jagt und seiner gerechten Strafe zuführt. Ebenso sollte es selbstverständlich sein, dass die Organe der nationalen Verteidigung sich mit Bedrohungen auseinandersetzen, die sich außerhalb der Landesgrenzen befinden. Auf der außenpolitischen Ebene, dem Verhältnis der Staaten untereinander, würde dieser Imperativ des Nichtinterventionismus zu einem "Staatsgrenzen über alles" führen. Libertäre erkennen damit die Legitimität von brutalen Diktatoren im Verhältnis zu anderen Staaten, auch freiheitlichen, an. Sie "konkretisieren Staaten - behandeln sie so, als wären sie tatsächliche Menschen", schreibt Brink Lindsey vom Cato Institute.
Nun, die Libertären haben sich zu entscheiden: Entweder ist die Herrschaft von Diktatoren illegitim, dann ist sie es absolut. Jede Macht, die diese Herrschaft durch ein freiheitlicheres System ersetzen will, hat das Recht, dies zu tun. Oder sie billigen Diktaturen im Verhältnis zu anderen Staaten eine Legitimität zu, d. h. jene haben das Recht, nicht von außen attackiert zu werden. Zahlreiche Beispiele aus der jüngsten und jüngeren Vergangenheit beweisen, dass militärische Interventionen zu Befreiungen führen können. So ist Afghanistan heute sich noch kein Ort, der nach westlichen Maßstäben als frei bezeichnet werden kann. Aber Afghanistan ist heute ohne jeden Zweifel freier als es noch vor dem 11. Spetember der Fall war. In Grenada wurde 1982 eine kommunistische Regierung durch eine bewaffnete Intervention der USA gestürzt. Das Land wird heute im Ranking von Freedom House als frei eingestuft, wohingegen es 1983/1983 als unfrei galt. Auch das Beispiel des Zweiten Weltkrieges beweist, dass Länder gezwungen werden können, frei zu sein. Dies bedeutet selbsverständlich nicht, dass freiheitliche Länder sich bedenkenlos dem Mittel militärisches Interventionen zuwenden sollten. Es bedeutet lediglich, dass militärische Interventionen in der Lage sein können, den Bereich der Freiheit auszudehnen. Auch hier liegt das Problem in der Konkretisierung. "Nicht jeder Schurkenstaat gibt Anlass zum Einsatz militärischer Gewalt", sagt US-Sicherheitsberaterin Rice, "es kommt immer auf den Einzelfall an." Um im konkreten Einzelfall entscheiden zu können, ob es vernünftig und praktisch ist, einen Krieg zu führen, sind allgemeine Prinzipien notwendig, die ein solche Entscheidung begründen können.
Grundsätzlich gibt es zwei Anknüpfungspunkte zur Rechtfertigung militärischer Gewalt gegenüber anderen Staaten. Der humanitäre Interventionismus will menschliches Leid in den attackierten Ländern beenden. Der eigeninteressierte Interventionismus will militärische Bedrohungen durch Schurkenstaaten eliminieren. Ayn Rand selbst lehnte etwa den Vietnam-Krieg ab, weil dieser "altruistisch" begründet sei. Sie lehnte den Krieg als "beschämend" ab, "da die Vereinigten Staaten keinen selbstsüchtigen Grund hatten, ihn zu führen, weil er keinem nationalem Interesse diente, weil sie durch ihn nichts gewinnen konnten, weil das Leben und der Heroismus von tausenden von amerikanischen Soldaten (und die Milliarden amerikanischen Reichtums) geopfert wurden in purer Übereinstimmung mit der Ethik des Altruismus, d. h. selbstlos und sinnlos." Diese Äußerungen von Rand stammen aus dem Aufsatz "The Lessons of Vietnam". In einem anderen Aufsatz, "The Chicken's Homecoming", schreibt Rand, dass die Vereinigten Staaten "nichts durch diesen selbstmörderischen Krieg" zu gewinnen hätten und sieht ihn in Übereinstimmung mit der Moral des Altruismus. Interessant ist, dass Rand bei der Suche nach einem Kriterium zur Beurteilung eines Krieges nicht von "Selbstverteidigung" spricht, sondern auf das breitere Konzept des "nationalen Interesses" verweist. Es läßt sich natürlich die Frage aufwerfen, ob Rand in der Frage der Bewertung des Vietnam-Krieges ihre eigene Philosphie richtig anwendete und ob ihre Anhänger ihre damalige Bewertung auch heute noch teilen. Auf der Website des ARI findet sich ein Hinweis auf den erstgenannten Aufsatz nur im Zusammenhang mit einem Zitat , das sich mit der Umweltbewegung beschäftigt. Kein Hinweis auf die ablehnende Haltung von Rand und ihre Begründung dafür. Wenn sich heute Autoren des ARI über den Vietnam-Krieg äußern, kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie im Gegensatz zu Rand diesen Krieg für gerechtfertigt halten.
So schreibt Andrew Bernstein in einem Aufsatz vom 22. Mai 2002 unter dem Titel Honoring Virtue on Memorial Day, dass solange die amerikanischen Soldaten in Vietnam kämpften, die Kommunisten vom Ziel der Erorberung abgehalten werden konnten, erst als die Politiker sich entschlossen, die Truppen zurückzuholen, sei ihnen dieses Ziel gelungen und sie konnten die Vietnamesen verklaven. Die Äußerungen von Bernstein lassen keine Zweifel daran aufkommen, dass er einen Sieg der amerikanischen Truppen in Vietnam als im amerikanischen Interesse angesehen hätte. Ganz ähnlich äußert sich Robert Tracinski in einem Aufsatz (The Prophets of Defeatism), der ebenfalls auf der Website des ARI veröffentlicht wurde. Er kritisiert in diesem Aufsatz die defensive Ausrichtung des amerikanischen Miltärs in Vietnam, dass nicht mit Bodentruppen nach Nord-Vietnam einrücken durfte, sondern den Feind lediglich bombardieren durfte. Auch bei Tracinski ist keine Rede von einem "altruistischen" Krieg, dessen schnelle Beendigung im Fall einer derartigen Beurteilung ja absolut begrüßenswert gewesen wäre. Die Ereignisse nach dem Ende des Vietnam-Krieges machen deutlich, dass nach beinahe jeder Definition eines "nationalen Interesses" ein Sieg gegen die Kommunisten in Südost-Asien wünschenswert gewesen wäre.
Man muss sicherlich konstatieren, dass Rand sich mit außenpolitischen Fragen nicht besonders intensiv beschäftigte, aber zweifellos muss man aus dem, was sie sagte, den Schluss ziehen, dass sie außenpolitisch irgendwie "hawkish" war, dass heißt, zu den außenpolitischen "Falken" zählte. Sehr deutlich äußert sich Rand etwa in einem Interview mit dem Playboy dahingehend, dass Diktaturen "Outlaws" sind und jede freie Nation das Recht hat, dort einzumarschieren. In diesem Interview ist noch nicht einmal davon die Rede, dass eine Selbstverteidigungssitutation vorliegen müsse. Auch spricht Rand nicht davon, dass die USA zu wenig frei wären, um einen derartigen Angriff führen zu dürfen. Auf die Frage, ob sie einen Angriff auf Kuba oder die Sowjetunion "durch die Vereinigten Staaten" unterstützen würde, antwortet sie: "Nicht im Moment. Ich denke, dass es nicht notwendig ist. Ich würde unterstützen, was die Sowjetunion am meisten fürchtet: Einen ökonomischen Boykott, ..."
Beide oben genannten Rechtfertigungen eines militärischen Interventionismus, einschließlich ihrer diversen Mischformen, basieren auf der Vorstellung, dass es einen "gerechten Krieg" geben kann. Ein derartiger Krieg ist für "Mr. Libertarian" Murray Rothbard wohl nur eine sehr theoretische Möglichkeit gewesen, da er einen Krieg nur dann als angemessen ansah, "wenn die Ausübung der Gewalt streng auf die individuellen Kriminellen beschränkt wird." Nun, eine derartig weltfremde Selbstbeschränkung hatte ein New Yorker Taxifahrer eher nicht im Sinn, als er im US-Fernsehen folgende Stellungnahme abgab: "You 're right, George. Go get the slimy bastards!"
Veröffentlicht in der Zeitschrift eigentümlich frei (ef-magazin) vom April 2003 (Nr. 33) in einer verkürzten Fassung |