Ayn Rands leidenschaftliches Eintreten für einen rationalen Egoismus und ihre Ablehnung des Altruismus wird selbst von wohlwollenden Autoren immer wieder in den Geruch der Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit gegenüber anderen Menschen gebracht. So lautet der Titel eines Artikels von Horst Ilmer in der Zeitschrift "phantastisch!": "Ayn Rand oder Was kümmert mich mein Nachbar?". Obwohl man dem Autoren nicht verwerfen kann, er kenne Rands Romane nicht, gibt er bezeichnenderweise keine Beispiele zur Untermauerung dieser Behauptung an. Und Jens P. Meiners schreibt in seinem Aufsatz "Ayn Rand - die Hohepriesterin des Kapitalismus": "Die vom Christentum postulierte moralische Verpflichtung, anderen zu helfen, lehnt sie prinzipiell ab - mit Ausnahme engster familiärer Beziehungen: Eltern übernehmen mit der Geburt ihres Kindes eine Fürsorgepflicht - als Konsequenz einer selbstbestimmten Handlung."
Die Verantwortung für die eigenen Kinder
Der Hinweis, dass es nach objektivistischer Auffassung eine Verpflichtung von Eltern gibt, ihre Kinder zu unterstützen, ist zutreffend. Diese Verpflichtung erwächst aus dem moralischen Prinzip, dass Menschen die Verantwortung für die Konsequenzen ihrer Handlungen übernehmen müssen. Kinder werden von ihren Eltern in die Welt gesetzt und jene sind nicht in der Lage, ohne fremde Hilfe zu überleben. Diese Verantwortlichkeit der Eltern hat aber eine zeitliche und auch eine inhaltliche Begrenzung. Was die Eltern dem Kind über das Niveau der Grundbedürfnisse hinaus anbieten, sei ein Ausdruck des Wohlwollens und der Zuneigung der Eltern zu ihrem Kind, schreibt Nathaniel Branden in einem Aufsatz aus dem Jahr 1962 für die Zeitschrift The Objectivist Newsletter. Wer dem Objektivismus "Humanität" absprechen möchte, sollte vielleicht in diesem Zusammenhang einen Blick auf die anarcho-kapitalistische Position eines Murray Rothbard werfen, die dem Leser einen kalten Schauer über den Rücken treibt: " (...) Eltern sollten das Recht haben, das Kind nicht zu ernähren, d. h. sterben zu lassen. Richtigerweise darf das Gesetz die Eltern mithin nicht nötigen, ein Kind zu ernähren oder es am Leben zu erhalten." Die notwendigen Aufwendungen der Eltern für ihre Kinder dürfen aber nicht als Opfer angesehen. Sie sind nicht Ausdruck einer altruistischen Grundhaltung.
Altruismus als Variante der Opferethik
Altruismus oder Egoismus, das war für Rand die entscheidende Frage der Ethik, wie sie es Howard Roark in "Der Ursprung" sagen läßt: "Seit den Anfängen der Geschichte stehen sich die beiden Antagonisten gegenüber: der Schöpfer und der Schmarotzer. Als der erste Schöpfer das Rad erfand, tat der erste Schmarotzer den Gegenzug. Er erfand den Altruismus." Das Wesen des Altruismus besteht aus dem Konzept der Selbstaufopferung. "Opfer" ist die Aufgabe eines größeren Wertes zugunsten eines geringeren Wertes oder eines Nicht-Wertes. Der Altruismus verpflichtet einen Menschen dazu, die Wohlfahrt der anderen über seine eigene zu stellen. Je mehr ein Mensch seine Werte aufgibt oder betrügt, desto tugendhafter ist er. Besonders tugendhaft, weil selbstlos, sind somit Opfer gegenüber Fremden oder sogar Feinden. Altruismus ist somit eine Anti-Selbst-Ethik. Die Sowjetunion war die ultimative Verkörperung der altruistischen Ethik in der Praxis. Befürworter des Altruismus wollen durch die Einführung solcher Begriffe wie Freundlichkeit, Kooperation und Hilfsbereitschaft die tatsächliche Bedeutung von altruistischen Handlungen vor ihren Opfern verbergen. Selbstverständlich wird auch eine Person wie Adolf Hitler nicht als Altruist präsentiert, wie es etwa Ayn Rand mit der Bemerkung tat, dass Hitler ein "glühender und expliziter Befürworter des Altruismus" war. Auch werden altruistische Handlungen wie selbstverständlich als freiwillig erbracht dargestellt, als liefere der philosophische Altruismus keine Begründung dafür, solche Handlungen auch zu erzwingen. Eklektizistische, unphilophische Altruisten sehen den Dienst an anderen zwar als moralisch verpflichtend an, wollen diesen aber nicht durch die Anwendung von Zwang durchsetzen. Überzeugte philosophische Altruisten verwerfen diesen Ansatz allerdings als individualistisch und nehmen an, dass die Anwendung von Gewalt zur Unterdrückung der Selbstsucht ethisch gerechfertigt sei, ja sogar, wie Leonard Peikoff in seinem Aufsatz "Altruism, Pragmatism and Brutality - Part II" aus der Zeitschrift "The Ayn Rand Letter" (Dezember 1972) schreibt, "ethisch geboten" sei. Jeder Mensch, fasst Peikoff ihre Argumentation zusammen, sei das Eigentum von anderen - und diese anderen solle auch ein lebenlang gedient werden. Wenn der Mensch versuchen sollte, das notwendige Opfer nicht freiwillig zu erbringen, schade er dadurch anderen Menschen, enthalte ihnen das vor, was moralisch ihnen gehöre.
Andrew Bernstein weist allerdings darauf hin, dass der Altruismus nur eine Subkategorie der Opferethik ist. Er ist nicht mit ihr identisch. Auch die heutige Umweltbewegung frönt einer Ethik des Opfers, weil sie den Menschen davon abhalten möchte, die Natur zu seinem Nutzen umzugestalten. In einem Interview mit Prodos weist Peter Schwartz, 1. Vorsitzende des Ayn Rand Institute darauf hin, dass die Umweltschützer das Opfer zugunsten von anderen Menschen einfach ersetzen durch das Opfer für die Natur. Im Sinne der Unterscheidung von Bernstein wäre dann allerdings nicht mehr von Altruismus zu sprechen, sondern von einer Opferethik zugunsten eines "höheren Wesens", in diesem Fall zwar nicht Gott, aber einem Konstrukt, der unberührten Natur, das dieser religiösen Vorstellung sehr nahe kommt.
Der rationale Egoismus als Alternative
Das völlige gegenteilige Verhalten empfiehlt Ayn Rand rationalen Menschen: "Handle immer in Übereinstimmung mit der Hierarchie deiner Werte, und opfere nie einen größeren Wert für einen geringeren." Die Sorge um die, die wir lieben, ist ein Bestandteil der egoistischen Interessen eines Menschen und hat nichts mit altruistischer Selbstaufopferung zu tun. Eine "selbstlose", "desinteressierte" Liebe ist ein Widerspruch in sich selbst. Ein Mann, der ein Vermögen ausgibt, um die lebensbedrohende Krankheit seiner Frau behandeln zu lassen, bringt kein Opfer zu ihren Gunsten, sondern handelt entsprechend der Hierarchie seiner Werte, in der seine Frau eine überragende Stellung einnimmt. Eine Opfer wäre es allerdings, wenn dieser Mann sein Geld zur Rettung von 100 hungernden Kindern in Afrika, die keine Bedeutung für ihn haben, verwenden würde, wie die Ethik des Altruismus von ihm fordert. Für Rand war Egoismus oder Selbstsucht eine Tugend, die sie als "sich um seine eigenen Interessen kümmern" definierte. Ein selbstsüchtiger Mensch sollte der alleinige Nutznießer seiner moralischen Handlungen sein. Der Begriff "Interesse" ist allerdings nicht identisch mit dem, was Menschen sich wünschen. "Die bloße Tatsache", schreibt Rand, "dass sich ein Mensch etwas wünscht, konstituiert weder einen Beweis, dass das Objekt seiner Begierde auch gut ist, noch dass die Erfüllung seines Wunsches auch in seinem Interesse liegt."
Wohlwollen als Egoismus
Entgegen der Behauptungen der Altruisten macht der Altruismus eine wahre Brüderlichkeit unter dem Menschen unmöglich. Wer Menschen unterteilt in Opfertiere auf der einen Seite und Profiteure von menschlichen Opfern auf der anderen Seite, schafft Feindseligkeit und Hass unter den Menschen. Rands rationaler Egoismus schließt allerdings Wohlwollen gegenüber anderen Menschen keineswegs aus. Tatsächlich sind Wohlwollen und Altruismus nicht nur anders, sie stehen in einem völligen Widerspruch zueinander. Der Philosoph David Kelley geht davon aus, dass das Wohlwollen eine eigennützige, keine altruistische Grundlage hat.
Wohlwollen, Freundlichkeit und Respekt vor den Rechten anderer Menschen erwachsen gerade aus dem gegenteiligen Moralkodex, aus dem Prinzip, dass der Mensch eine Entität von höchstem Wert ist und eben gerade kein Opfertier, dass der Mensch kein Mittel zum Zweck der Opferleistungen für andere Menschen ist, und dass niemand das Recht auf das Opfer von irgendeinem Menschen hat. Zuerst muss der Mensch sich selber schätzen, dann kann er dieses Gefühl auch gegenüber anderen Menschen haben. Dieses Thema wird dramatisiert in einer Episode aus Rands Atlas Shrugged, wo sie beschreibt wie die Starnes-Fabrik umstrukturiert wurde, und zwar entsprechend dem Grundsatz "Jedem nach seinen Bedürfnissen". Eine Konsequenz dieses Prozesses war ein Verlust des Wohlwollens unter den Arbeitern. Ein Tramp berichtet es gegenüber Dagny Taggart: "Dort lernten wir zum ersten Mal in unserem Leben, unsere Brüder zu hassen. Wir begannen, sie wegen jeder Mahlzeit zu hassen, die sie verzehrten, wegen jeden kleinen Vergnügens, das sie sich gönnten, wegen jeden neuen Hemdes, das sich ein Mann anschaffte, wegen des Hutes, den sich die Frau eines anderen kaufte, wegen eines Ausflugs, den sie mit ihrer Familie unternahmen, wegen des neuen Anstriches ihres Hauses. (...) In den alten Zeiten hatten wir es immer gefeiert, wenn jemand Nachwuchs bekam. Wir sprangen ein und halfen ihm, die Krankenhausrechnung zu bezahlen, wenn er im Augenblick gerade schlecht bei Kasse war. Aber wenn jetzt ein Kind geboren wurde, sprachen wir wochenlang nicht mit den Eltern. Babys waren für uns das geworden, was Heuschrecken für die Bauern sind." Man beachte, wie deutlich Rand die Alternative "Wohlwollen oder Altruismus" in dieser Beschreibung der veränderten Rahmenbedingungen in der Fabrik aufzeigt.
Der Problem der Notfälle
Ein rationaler Egoist kann anderen Menschen in Notfällen helfen, weil er den Wert des menschlichen Lebens anerkennt und seinen Mitmenschen bis zum Beweis des Gegenteils einen Kredit einräumt. Um dies am Beispiel eines Ertrinkenden deutlich zu machen, dem Lieblingsbeispiel der Altruisten: Es ist moralisch richtig, einen Fremden vor dem Ertrinken zu retten, wenn das Risiko für das eigene Leben minimal ist. Sollte das Risiko hoch sein, ist es unmoralisch, dies zu versuchen. Wenn die Person nicht fremd ist, sollte das Risiko, dass man eingeht, größer sein in Abhängigkeit von der Wertschätzung der zu rettenden Person. Dies kann bis zum Risiko des Verlustes des eigenen Lebens gehen, wenn es um eine über alles geliebte Person geht, "aus dem eigennützigen Grund, dass das Leben ohne die geliebte Person unerträglich wäre." (Ayn Rand, The Ethics of Emergencies) Für Leonard Peikoff ist Hilfe in Notfällen gegenüber Fremden unter gewissen Bedingungen moralisch, nicht aber verpflichtend: "Anderen Hilfe zu gewähren in solch einem Kontext ist ein Akt der Großzügigkeit, keine Verpflichtung." David Kelley pflichtet ihm bei, dass dies keine Verpflichtung im Sinne eines Rechtes sei. Der Spender müsse die Freiheit haben, die Werte und Risiken im Kontext seiner eigenen Situation und der Hierarchie seiner Werte einzuschätzen: "Aber wenn ein Akt der Hilfe objektiv angebracht ist, dann ist er moralisch erforderlich, ebenso wie es bei anderen tugendhaften Handlungen der Fall ist, und die Unterlassung der Hilfeleistung stellt eine moralische Schuld dar. Um ein berühmtes Beispiel aus den Sechzigern zu nehmen: Als Kitty Genovese vor ihrem New Yorker Apartment erstochen wurde, handelten die Leute, die ihre Schreie hörten und die Polizei nicht alarmierten, unverantwortlich." Obwohl man in Kelleys Beispiel sagen kann, dass die Hilfeleistung angemessen wäre, muss man doch die Frage aufwerfen, ob sie wirklich moralisch verpflichtend wäre. "Moralische Verpflichtungen entsprechend dem Egoismus", schreibt Don Watkins, "sind gewählte Verpflichtungen, Verpflichtungen, die aus der Entscheidung entspringen, zu leben. Wenn man sich entscheidet, zu leben, dann ist man verpflichtet, diejenigen Handlungen auszuführen, die seinem Leben über die gesamte Lebensdauer am besten dienen. Ein Egoist würde sagen, dass es angemessen ist, einem anderen in den Fällen zu helfen, wo kein Opfer eines höheren Wertes erbracht werden muss, aber dass das Recht zu existieren, und der moralische Status eines Menschen nicht von Hilfeleistungen für Fremde in Notlagen abhängt. Notfälle sind außerhalb des Kontext des normalen Lebens (eben deshalb sind sie Notfälle) und deswegen hängt der moralische Status eines Menschen nicht von seinem Verhalten in Notfällen ab."
Auch wenn ein Egoist anderen Menschen Hilfe anbietet, er akzeptiert niemals, dass es seine Pflicht ist, sein Leben in den Dienst an anderen zu stellen, dass irgendein Leiden oder irgendeine Hilflosigkeit eines anderen Menschen eine Verpflichtung für ihn selbst bedeutet. Der Altruismus fordert nicht, dass man anderen Menschen helfen soll, wenn kein Opfer erforderlich oder wenn man einen positiven Wert in einer anderen Person sieht, sondern er sieht das Recht auf der Seite von denjenigen, die Hilfe fordern, und nur Pflicht auf der Seite derjenigen, die Hilfe erbringen müssen.
Der zynische Egoismus als Variante der Opferethik
In dem Aufsatz "Counterfeit Individualism" grenzt Nathaniel Branden Rands rationalen Egoismus von den Egoismuskonzepten von Nietzsche und Stirner ab, die immer wieder von Altruisten und Kollektivisten herangezogen werden, um zu suggerieren, dass Egoismus aus der Auslebung seiner Launen bestehe. Rand verwarf die Rebellion Nietzsches gegen den Altruismus, weil dieser anstelle des Ichs andere opfern wollte. Die Moralphilosophie des zynischen Egoismus wird von Objektivisten nur als eine Variante des Ethik des menschlichen Opfers angesehen, nur das in diesem Fall das Selbst der anderen geopfert wird, nicht das eigene Selbst.
Rands egoistische Helden
Rands Begriff von Egoismus kontrastiert natürlich deutlich mit dessen Alltagsverständnis, das von einer skrupellosen Rücksichtslosigkeit ausgeht. Wer sich die egoistischen Helden aus Rands Romanen vor Augen führt, wird den Unterschied zwischen beiden Varianten von Egoismus recht schnell erkennen. Es sind Menschen, die sich nicht opfern wollen, die aber auch nicht erwarten, dass sich für sie aufopfern. Rand konnte sie zu Romanhelden machen, weil entgegen der landläufigen Meinung, Egoismus eine seltene Stärke ist. Dies bedeutet nicht, dass sie gleichgültig gegenüber allen anderen Menschen sind, dass das menschliche Leben für sie ohne Wert ist oder dass sie keine Gründe dafür haben, anderen Menschen in Notlagen zu helfen. Es bedeutet lediglich, dass die Linderung der Leiden von anderen Menschen nicht ihr primäres Anliegen ist, dass jede Hilfe, die sie geben, eine Ausnahme, und nicht die Regel ist. Für Rand war "der Händler" das moralische Symbol eines Menschen, der nach rationalen Werten strebt. Und die Beziehungen zu anderen Menschen sollten gemäß dem Händlerprinzip gestaltet werden. |