Samstag, März 11, 2017

Absolutheit in einem Kontext

(Philipp Dammer) Gestern ergab sich hier folgende Debatte: Herr Y stellte die Frage, ob für den Objektivismus Verträge frei zu vereinbaren und bindend seien. Daraufhin schrieb ich: „Absolut ja, innerhalb des Kontexts individueller Rechte. Man könnte seine Kinder oder sich selbst z.B. nicht in die Sklaverei verkaufen oder vereinbaren, dass einer den anderen bei Vertragsbruch verstümmeln oder erschießen darf o.ä.“
Daraufhin schrieb Herr Y: „Also sind sie nicht "frei"“
Das ist eine gute Gelegenheit, das Thema „Absolutheit in einem Kontext“ zu klären, welches entscheidend für das Verständnis der objektivistischen Ethik ist.

Zunächst müssen wir uns daran erinnern, dass Wissen hierarchisch ist, d.h. einige Dinge sind fundamentaler als andere. Oder anders gesagt: Nicht alle Fakten liegen auf der gleichen Stufe. Man muss einige Begriffe vor anderen kennen.
Zum Beispiel erkennt der Mensch in seiner Entwicklung relativ früh, dass es z.B. feste Dinge und flüssige Dinge gibt. Aber dass Dinge aus Atomen bestehen, kommt viel später in der Entwicklung des menschlichen Wissens. Und dass Dinge aus Atomen bestehen, schließt z.B. das Wissen, dass es feste und auch flüssige Dinge gibt, implizit mit ein. Man könnte anders gesagt nicht zuerst zu der Erkenntnis gelangen, dass Dinge aus Atomen bestehen und erst danach entdecken, dass Dinge fest oder flüssig sind.
„Wissen ist keine Gegenüberstellung von unabhängigen Einzeldingen; es ist eine Einheit. Es ist kein Haufen von autarken Bewusstseinsatomen, von denen jedes ohne die anderen existieren und behandelt werden kann.“ (aus „Objektivismus: Die Philosophie von Ayn Rand“)
Und daher findet jede Aussage in einem Kontext statt. Wenn Herr Y z.B. fragt, ob Verträge frei und bindend sind – in welchem Kontext befinden wir uns hier? Wir haben hier eine juristische und/oder politische Frage, d.h. wir befinden uns bereits relativ weit oben in der Hierarchie des Wissens. Wir kommen zu einer solchen Frage also erst, nachdem wir bereits einen gewaltigen KONTEXT voraussetzen.
Den Kontext bildet hier das gesamte vorherige Wissen aus Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ethik, spezifischer gesagt: Hier geht es um eine Beziehung, die zwei Menschen miteinander eingehen. Wir setzen hier also bereits voraus, dass es sich um Erwachsene handelt, dass sie bestimmte unveräußerliche Rechte haben, die keiner verletzen darf, dass beide als eigenverantwortliche Wesen behandelt werden, dass beide freien Willen haben, dass beide zurechnungsfähig sind, dass es eine Übereinkunft gibt, dass Verträge auch einzuhalten sind usw. usw. Die Liste, die man hier aufzählen könnte, wäre buchstäblich endlos. Der Kontext ist also die Gesamtsumme des hier relevanten Wissens.
„Der Kontext, den man berücksichtigen muss, ist also nicht ein bloßes Fragment oder eine Unterabteilung des eigenen noch so großen Wissens, sondern alles, was auf einer bestimmten Entwicklungsstufe bekannt ist, die Summe allen Wissens. Nur so kann man sicherstellen, dass das eigene Wissen eine Summe, d.h. ein stimmiges Ganzes bildet. Eine solche Stimmigkeit ist kein Geschenk, sondern eine Leistung, die einen methodischen Prozess und Arbeit verlangt.“ (ebd.)
Ein Beispiel aus der Wissenschaft: Nehmen wir an, ein Wissenschaftler will etwas über Gravitation herausfinden. Er experimentiert und findet heraus, dass Bücher, Tassen, Marmeladenbrote usw. nach unten fallen, wenn man sie loslässt. Er stellt also die These auf: „Dinge fallen nach unten.“ Und das stimmt! Das ist eine ewige Wahrheit. Dann findet er heraus, dass ein mit Helium gefüllter Ballon NICHT nach unten fällt, sondern steigt. Lautet sein Fazit nun: „Oh, es ist alles sinnlos! Ich dachte, ich hätte ein Gesetz gefunden, aber das stimmt nicht! Der Mensch kann nichts mit Sicherheit sagen. Wissen ist eine Illusion.“ Natürlich nicht. Die richtige Methode besteht daraus, den KONTEXT richtig zu definieren, nämlich „Dinge, die schwerer sind als Luft, fallen nach unten.“ Mit anderen Worten: Wenn ein neuer Faktor auftaucht, muss ich ihn auch berücksichtigen.
Kommen wir nun zurück zu dem Beispiel mit den Verträgen.
Der Objektivismus vertritt absolute ethische Prinzipien – absolut in einem Kontext. Was ist der Kontext? Die Gesamtsumme aller relevanten Fakten. Und wenn die relevanten Fakten anders ausfallen, kann die jeweilige Verhaltensregel natürlich auch anders ausfallen. Wenn man (wie der Objektivismus) sagt: „Du sollst ehrlich sein/nicht lügen, weil...“, dann gilt das auch in einem bestimmten Kontext, nämlich: nicht lügen, um von anderen betrügerisch einen Wert zu erlangen. Wenn ein irrer Axtmörder vor deiner Tür auftaucht und dich fragt, wo dein Kind ist, dann lüge, dass sich die Balken biegen. Warum? Weil der KONTEXT ein anderer ist. Hier geht es darum, einen Wert zu beschützen, was die Grundlage von Moral ist. Von Moral abgetrennt von Werten zu sprechen, bedeutet, den gesamten Wissenskontext des Themas „Moral“ zu ignorieren. (Nebenbei bemerkt sagt Kant, dass man auch im Falle des Axtmörders die Wahrheit sagen müsse!!!)
Wer jetzt sagt „Ich möchte aber unabänderliche Regeln, die ungeachtet aller relevanten Umstände gelten. Ich will mich nicht mit Denkarbeit, Kontext, Hierarchie, neuen Faktoren oder veränderten Umständen befassen müssen“, der sagt: Ich will ein unfehlbares Dogma.
Dafür ist Objektivismus leider die falsche Adresse. Wir geben keine kategorischen Imperative à la Kant oder dogmatische Gebote à la Bibel heraus. Die Bibel sagt „Du sollst Vater und Mutter ehren“ – Punkt. Keine Fußnoten, keine relevanten Tatsachen oder Ausnahmen. Tu es – fertig. Fragen wie „Haben diese Eltern es verdient, geehrt zu werden?“ „Was, wenn ein Elternteil ein Schwein ist?“ dürfen nicht aufgeworfen werden. Die Regel ist ein Dogma und Schluss.
Um das auf das Beispiel von Herrn Y anzuwenden: Ist der Mensch frei? Wovon sprechen wir hier? Wie sieht der KONTEXT aus? Da wir hier eine politische Frage behandeln, wird das gesamte Wissen aus der Ethik vorausgesetzt (da Politik die Umsetzung eines bestimmten Moralkodexes in einem gesellschaftlichen Umfeld ist). Und „Freiheit“ bedeutet für den Objektivismus nicht „Handeln nach Laune“, sondern das Recht auf eigenständiges Handeln ohne Zwang durch den Staat. Und eine relevante Tatsache, die wir berücksichtigen müssen, ist das Vorhandensein anderer Menschen mit denselben Rechten, die wir nicht verletzen dürfen.
Zu sagen, dass nur „absolute“ Freiheit wirkliche Freiheit sei und dass man z.B. das Recht haben sollte, seine Kinder in die Sklaverei zu verkaufen, missachtet eben genau den Kontext, in dem der Begriff „Freiheit“ überhaupt erst aufkommt.
Der Objektivismus vertritt weder subjektivistisches Handeln nach Laune in Verachtung von Tatsachen noch intrinsische Dogmen ungeachtet von menschlichen Zielen. Er vertritt OBJEKTIVES Handeln, d.h. Handlungen unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen zu einem bestimmten Ziel.
Auch hier trägt der Objektivismus seinen Namen zu Recht. Er ist objektiv.
Das ist eine viel zu kurze Zusammenfassung eines komplexen Themas. Wer es genauer nachlesen will, dem empfehle ich Dr. Peikoffs Buch „Objectivism: The Philosophy of Ayn Rand“.