Sonntag, Oktober 22, 2006

Die ideologischen Voraussetzungen des Nazismus

Der ehemalige israelische Ministerpräsident David Ben Gurion hat ausweislich des WELT-Journalisten Ernst Cramer nie eine Antwort auf die Frage erhalten, wie das Schrecklich gerade in Deutschland geschehen konnte. "Es gibt auch keine", fügt Cramer an. Aber Ben Gurion und jeder andere auch hätte auf diese berechtigte Frage durchaus eine Antwort erhalten können, eine, die wirklich die Ursachen des Nazismus benennt und das Niveau gängiger Pseudo-Erklärungen überschreitet. Es gibt diese Antwort bei einigen liberalen Historikern wie Karl D. Bracher und George Mosse, und vor allem gibt es diese Antwort auch bei einem Philosophen, bei Leonard Peikoff, Ayn Rands Schüler und Erben. Die Bedeutung einer zutreffenden Erklärung für das Wesen und die Ursachen totalitärer Bewegungen zeigt sich an der aktuellen Konfrontation zwischen dem Westen und dem Islamismus, wo alte Fehler wiederholt werden und fehlerhafte Strategien auf Basis dieser Fehleinschätzung formuliert und umgesetzt werden. Der Fehler, der benannt und überwunden werden muss, liegt in der Unterschätzung von Ideen als der Triebkraft der Geschichte. Der Historiker Jeffrey Herf erinnert in einem Artikel in der WELT am Sonntag vom 15. Oktober 2006 daran, dass sich sowohl die kommunistischen Parteien wie auch die konservativen Eliten in Deutschland, ebenso auch die maßgeblichen Außenpolitiker in England und Frankreich, als unfähig gezeigt hatten, "Hitlers Ideologie als Schlüssel zum Verständnis seiner Politik zu erkennen." Wie sehr Hitler nicht beim Wort genommen wurde, läßt sich unter anderem an der grandiosen Fehleinschätzung eines Franz Neumann ablesen, Autor eines marxistischen Klassikers über den Nationalsozialismus, der noch während des 2. Weltkrieges für den US-Geheimdienst OSS arbeitend zu dem Schlussfolgerung gelangte, dass die Nazis die Juden nicht ermorden würden, da die Nazis sie als Sündenböcke bräuchten, um von den Misständen des Monopolkapitalismus abzulenken. Hitlers Ideologie war einer rationalen Überprüfung durchaus zugänglich, da sie keineswegs in irgendwelchen Geheimdokumenten schlummerte, sondern offen für jedermann zugänglich war. "Die Essenz des politischen Systems, welches Hitler in Deutschland etablieren wollte, war klar", schreibt Peikoff (Peikoff, S. 15). Peikoff erwähnt die Verkaufszahlen von Hitlers Mein Kampf, von dem zwischen 1925 und 1932 "mehr als 200 000 Exemplare" verkauft worden sein sollen. Fast ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen von Peikoffs Buch demontierte jüngst der österreichische Historiker Othmar Plöckinger den Mythos, Hitlers Buch sein ein ungelesener Bestseller gewesen. Er untersuchte die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von "Mein Kampf" und kommt zu dem Ergebnis, dass es eine der "hartnäckigsten Verallgemeinerungen und Fehleinschätzungen zur Geschichte des Nationalsozialismus" sei, wenn davon ausgegangen würde, dass die Deutschen Hitlers Wälzer nicht gekannt hätten. Plöckinger nennt eine Verkaufszahl von 241 000 Exemplaren bis zum Januar 1933 und von 1 Millonen Exemplaren für das Jahr 1933 allein, lange bevor das Regime Freiexemplare an frische Verheiratete oder Frontsoldaten kostenlos ausgab. Aber Hitler befand sich nur am Ende der ideologischen Nahrungskette. Er und seine Nazi-Bewegung waren nur die politischen Profiteure einer intellektuellen Bewegung, die im 19. Jahrhundert ganz Europa durchdrang, aber in Deutschland sein Zentrum und den größten Einfluss ausübte. Diese antiaufklärerische Bewegung trägt den Namen Romantizismus. (Peikoff, S. 49) Die beiden Figuren, die die Bewegung schufen und sie zu einer intellektuell respektablen Stimme im Westen machten, waren die deutschen Philosophen Kant und Hegel. "Kant ist der Vater der romantischen Bewegung", stellt Peikoff fest, wobei der Begriff "Vater" im Sinne eines "die Tür öffnen" zu verstehen ist. Hegel durchschritt schließlich die Tür, ohne allerdings zu versäumen, auf seinem Weg leidenschaftliche Lippenbekenntnisse für die Vernunft abzugeben. Hegel folgten weitere Philosophen, die die Tür durchschritten und allesamt wenig unternahmen, ihre Ansichten zu kaschieren. Peikoff nennt Fichte, Friedrich Schlegel, Schelling, Schleiermacher, Schopenhauer und Nietzsche. An einer anderen Stelle beschäftigt sich Peikoff ausführlicher mit Nietzsche und räumt ein, dass Nietzsche ein "Anti-Etatist, Anti-Rassist und in vielerlei Hinsicht ein Verteidiger des Individuums" sei, aber nichtsdestotrotz sei er ein "glühender Romantizist" gewesen, aus dessen zusammenhanglosen, aphoristischen Schriften die Nazis mit Genuss zitieren konnten.