Montag, Juni 05, 2006

Die Internationale

In Ayn Rands erstem Roman We the Living (Vom Leben unbesiegt), der in der jungen Sowjetunion kurz nach der Machtergreifung der Kommunisten spielt, kommt der Musik eine große Rolle zu. Rand setzt die Musik ein, um die Emotion einer Szene oder die Emotion der Ereignisse im Leben der Charaktere zu unterstreichen. Häufiger als jedes andere Musikstück wird "Die Internationale" erwähnt, ein Lied, das die Kommunisten nach dem erfolgreichen Umsturz zur offiziellen Hymne der Revolution erklärten, bis Stalin 1941 den Internationalismus auch auf der symbolischen Ebene zu Grabe trug. Ursprünglich kam "Die Internationale" aus Frankreich, wo sie 1871 geschrieben wurde, um die kommunistische Pariser Kommune zu feiern. Die Musik ist von Pierre Degeyter und der Text von Eugene Potlier, einem Mitglied der 1. Internationale. Anläßlich einer Versammlung von Studenten zur Wahl des Studentenrates am Technologischen Institut, wo die kommunistischen Studenten dieses Lied anstimmen, gibt Rand eine längere Beschreibung der Melodie der Internationalen (zitiert nach der deutschen Ausgabe, S. 77):

Zum ersten Mal in Petrograd hörte Kira die Internationale. Sie achtete nicht auf den Text. Der Text sprach von den Verdammten, den Hungrigen, den Sklaven, jenen, die nichts gewesen waren und alles sein würden. Aber in dem wunderbaren Pokal der Musik waren die Worte kein berauschender Wein, kein Entsetzen erregendes Blut, sondern nur graues Spülwasser.
Die Melodie jedoch war wie das Hallen Tausender entschlossen marschierender Füsse, wie Trommeln, die von festen Händen geschlagen wurden, war wie der Marsch der Soldaten, die in der Dämmerung der Schlacht und dem Sieg entgegenziehen. Es war eine Hymne mit der Wucht eines Marsches, ein Marsch mit der Majestät einer Hymne. Es war der Gesang der Soldaten, die geweihte Banner und von Priestern gesegnete Schwerter tragen. Es war ein Lied von der Heiligkeit der Kraft.
Alle hatten sich erhoben, als die Internationale gespielt wurde.
Kira lauschte lächelnd der Musik.
"Das ist das erste Schöne, das ich an der Revolution bemerkt habe", sagte sie zu ihrer Nachbarin.
"Seien sie vorsichtig", flüsterte das junge Mädchen und blickte dabei nervös um sich. "Es könnte Sie jemand hören."
"Wenn all dies vorüber ist", sagte Kira, "wenn die Spuren ihrer Republik von der Geschichte ausgelöscht sind - was für ein herrlicher Trauermarsch wird das dann sein."